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Pandemie ließ Gender Gap aufgehen

Beitrag von Martina Zandonella für Sammelband zu Frauengesundheit und Pandemie

Mit der Pandemie haben sich Lebensrealitäten in einem zuvor kaum denkbaren Ausmaß verändert. In mehreren Studien hat SORA die Auswirkungen auf die Lebens- und Erwerbsituation von Frauen untersucht. Die Ergebnisse zeigen massive geschlechtsspezifische Belastungen mit drastischen Auswirkungen: Nach mittlerweile vier Lockdowns hatten im Frühjahr 2021 mehr als die Hälfte der Wienerinnen mit Ängsten und Hoffnungslosigkeit zu kämpfen, beinahe ebenso weit verbreitet war Erschöpfung, vor allem aufgrund der sich verdichtenden Mehrfachbelastung zwischen Beruf und Familie.

Frauen bereits vor der Pandemie stärker belastet

Die Folgen der Pandemie haben damit zwei Bereiche besonders stark getroffen, in denen schon zuvor ein Ungleichgewicht zulasten der Frauen herrschte: Erwerbs- und Sorgearbeit. So waren bereits vor der Pandemie mehr Frauen als Männer armutsgefährdet und Frauen arbeiteten häufiger atypisch und prekär. Sie stellen darüber hinaus die Mehrzahl der Beschäftigten in zahlreichen systemrelevanten Berufen mit hoher Arbeitsbelastung und niedrigen Einkommen (Schönherr/Zandonella 2020).

Der Blick auf die Sorgearbeit zeigt, dass Frauen im Durchschnitt 4,5 Stunden am Tag mit Hausarbeit, Kinderbetreuung und Pflege verbrachten. Betreuungspflichten waren außerdem für 38 % der Frauen der zentrale Grund für ihre Teilzeitbeschäftigung, jedoch für nur 6 % der Männer. Die dann im Zuge der Pandemie zusätzlich anfallende Sorgearbeit haben wiederum in erster Linie Frauen übernommen.

Drastische Folgen für die psychische Gesundheit

All das ging an der psychischen Gesundheit der Frauen in Wien nicht spurlos vorüber, wie die von SORA im Frühjahr 2020 und im Frühjahr 2021 im Auftrag der Psychosozialen Dienste, der Abteilung Wirtschaft, Arbeit und Statistik der Stadt Wien (MA 23) und des Fonds Soziales Wien durchgeführten Befragungen zeigen:

Bereits nach dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 berichtete ein Drittel der Wienerinnen, dass sich ihre psychische Gesundheit infolge der Pandemie verschlechtert hat. Ein Jahr und drei weitere Lockdowns später waren mehr als die Hälfte (56 %) von ihnen betroffen. Mit der Verschlechterung der psychischen Gesundheit gingen spezifische Symptome einher, die an die veränderten Lebensrealitäten und Belastungen anschlossen: Jeweils mehr als die Hälfte der Wienerinnen hatten mit Ängsten und Hoffnungslosigkeit zu kämpfen, beinahe ebenso weit verbreitet war Erschöpfung. Letzteres führten die Wienerinnen selbst vor allem auf die sich verdichtende Mehrfachbelastung zurück – sie hatten noch mehr unter einen Hut zu bringen als vor der Pandemie.

Gender Gap ging weiter auf

Infolge der Pandemie haben sich außerdem bestehende Ungleichheiten verstärkt. So berichteten Frauen nicht nur häufiger als Männer über eine Verschlechterung ihrer psychischen Gesundheit (im Frühjahr 2021 waren es 56 % im Vergleich zu 35 %). Mit zunehmender Dauer der Pandemie hat sich ihre psychische Gesundheit auch noch einmal häufiger verschlechtert – der Gender Gap ist aufgegangen. Ein wesentlicher Grund hierfür ist, dass Frauen den Großteil der zusätzlichen Sorgearbeit, die sich im Zuge der Pandemie wieder zurück in die Familien verlagert hat, übernommen haben. Dabei spielten nicht nur die geschlossenen Schulen, Betreuungs- und Freizeiteinrichtungen eine Rolle, sondern auch die zunehmend schlechtere psychische Verfassung der Kinder und Jugendlichen.

Frauen im unteren ökonomischen Drittel besonders betroffen

Für die psychische Gesundheit der Wienerinnen nicht zu unterschätzen ist schließlich die ökonomische Sicherheit: Wienerinnen im unteren ökonomischen Drittel berichteten im Frühjahr 2021 beinahe doppelt so häufig wie Wienerinnen im oberen ökonomischen Drittel über eine Verschlechterung ihrer psychischen Verfassung (67 % im Vergleich zu 35 %). Im Zeitverlauf hat sich dieser Class Gap außerdem vergrößert– eine Entwicklung, die sich bei den Männern nicht zeigt. Mit zunehmender Dauer der Pandemie stellen fehlende ökonomische Ressourcen in Hinblick auf die psychische Gesundheit also für Frauen ein größeres Risiko dar als für Männer.

Niederschwellige Unterstützung ist Gebot der Stunde

Daran anschließend berichteten bereits im Frühjahr 2021 vier von zehn Wienerinnen ab 16 Jahren – das sind rund 354.000 Frauen – Bedarf an Unterstützung und Hilfe, allem voran in Hinblick auf ihre psychische Gesundheit und finanziellen Belange. Entsprechende niederschwellige Angebote – sichtbar, kostenlos und vor Ort in den Stadtteilen mit geringen ökonomischen Ressourcen sowie in den Ausbildungs- und Freizeiteinrichtungen – sind das Gebot der Stunde. In Zusammenhang mit der ökonomischen Lage der Wienerinnen gießt derzeit die hohe Inflation zusätzlich Öl ins Feuer – Preissteigerungen bei Lebensmitteln, Energie oder Wohnen treffen Frauen stärker, jene im unteren ökonomischen Drittel besonders hart. Gerade auch aus feministischer Perspektive wird daher ökonomische Ungleichheit als politisches Thema noch einmal dringlicher.

Literatur- und Quellenangaben

AMS (2021): Spezialauswertung der Arbeitsmarktdaten im Mai 2021. Wien: Arbeitsmarktservice.

Kaman, Anne / Otto, Christian / Erhart, Michael / Seum, T./ Ravens-Sieberer, Ulrike (2021): Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen während der ersten und zweiten Welle der COVID-19-Pandemie. Ergebnisse der COPSY Längsschnittstudie. In: Frühe Kindheit, 2/34-37.

Mader, Katharina / Derndorfer, Judith / Disslbacher Judith / Lechinger, Vanessa / Six, Eva (2020): Der Lockdown und die Unvereinbarkeit von Home Office und Kinderbetreuung. Forschungsbericht im Auftrag der AK Wien. Wien: Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien.

Ringler, Paul / Baumegger, David (2020): Zur Situation von Eltern während des zweiten Lockdowns in der Coronapandemie. Forschungsbericht im Auftrag des Momentum Instituts. Wien: SORA.

Schlack, Robert / Neuperdt, Laura / Hölling, Heike / De Bock Freia / Ravens-Sieberer, Ulrike / Mauz, Elvira / Wachtler, Benjamin / Beyer, Ann-Kristin (2020): Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und der Eindämmungsmaßnahmen auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. In: Journal of Health Monitoring, 5/4/23-34.

Schönherr, Daniel / Zandonella, Martina (2020): Arbeitsbedingungen und Berufsprestige von Beschäftigten in systemrelevanten Berufen in Österreich. Forschungsbericht im Auftrag der AK Wien. Wien: SORA.

Seager, Joni (2020): Der Frauenatlas. Ungleichheit verstehen: 164 Infografiken und Karten. München: Hanser.

Statistik Austria (2019): Mikrozensus 2019, eigene Berechnungen.

Statistik Austria (2020): Tabellenband EU-SILC 2019. Einkommen, Armut und Lebensbedingungen, bezogen unter: statistik.at/web_de/frageboegen/private_haushalte/eu_silc/index.html (Zugriff: 15.5.2022).

Statistik Austria (2021): Arbeitsmarktstatistiken 2020. Ergebnisse der Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung und der Offenen-Stellen-Erhebung, bezogen unter: Arbeitsmarktstatistiken 2020, Ergebnisse der Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung und der Offenen-Stellen-Erhebung (Zugriff: 15.5.2022).

Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser AÖF (2020): Tätigkeitsbericht 2020 .

WHO (2020): Statement – During COVID-19 pandemic, violence remains preventable, not inevitable. Statement to the press by Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO Regional Director for Europe, bezogen unter: euro.who.int/en/about-us/regional-director/statements-and-speeches/2020/statement-during-covid-19-pandemic,-violence-remains-preventable,-not-inevitable (Zugriff: 15.5.2022).

Zandonella, Martina / Baumegger, David / Sturmberger, Werner (2020): Zur psychosozialen Situation der Wiener:innen während der Corona-Pandemie. Forschungsbericht im Auftrag der Psychosozialen Dienste, MA 23, Fonds Soziales Wien. Wien: SORA.

Zandonella, Martina (2021): Follow-up zur psychosozialen Situation der Wiener:innen während der Corona-Pandemie. Forschungsbericht im Auftrag der Psychosozialen Dienste, MA 23, Fonds Soziales Wien. Wien: SORA.

Bildcredit: Foto von Ani Kolleshi auf Unsplash.